Archiv | April, 2012

Alltäglicher Wahnsinn

30 Apr

Eins vorweg: Von der weit verbreiteten Kriminalität im Land haben wir selbst noch nichts mitbekommen. Guatemala, wie es sich uns präsentiert, ist friedlich und entspannt. Selten waren wir von so warmherzigen, gastfreundlichen, tollen Menschen umgeben wie hier, in San Pedro La Laguna, dem kleinen Bergdorf mit der großen Maya-Kultur, in dem Backpacker, Einheimische und Aussteiger wie eine offene Patchwork-Familie zusammen leben.

Und doch gibt es ihn, den alltäglichen Wahnsinn, per Tageszeitung erreicht er uns Tag für Tag aus dem Rest des Landes. Überfälle, Vergewaltigungen, Auftragsmorde – die meisten Horrormeldungen kommen aus der Hauptstadt (Guatemala-Ciudad), die gerade einmal 150 Kilometer von San Pedro entfernt liegt und zu den gefährlichsten Orten der Welt gehört. Rund 4000 Menschen werden hier jedes Jahr ermordet. Zum Vergleich: Im etwa gleich großen Berlin sind es rund 40 Morde pro Jahr.

Jeden Tag gehe ich mit meinem Spanischlehrer die Tageszeitung durch und bin schockiert. Vor allem darüber, in welchem Ausmaß Straßenräuber, Jugendbanden und Drogenschmuggler im ganzen Land operieren, in welchem Ausmaß der Staat versagt und schlimmer noch, in welchem Ausmaß Politiker und Polizisten selbst in kriminelle Machenschaften verwickelt sind. Die korrupte Staatsmacht gilt als eins der größten Übel in Guatemala.

Umso mehr schätze ich die Arbeit der hiesigen Journalisten, die in dieser explosiven Umgebung kritisch und hartnäckig über die Probleme des Landes berichten. Irritiert hat mich allerdings, wie in den Zeitungen mit den Verdächtigen umgegangen wird. Mit vollem Namen und unverpixelt werden sie (landesweit) präsentiert – das kommt einem modernen Pranger gleich und wäre so in Deutschland niemals möglich.

Hier eine kleine Auswahl der letzten Tage (Quelle: Prensa Libre):

Diese Damen wurden festgenommen, weil sie Kinder entführt und von den Eltern Lösegeld erpresst haben sollen. Kidnapping ist weit verbreitet in Guatemala...

...auch wenn nicht jede Entführung echt ist, wie in diesem Fall. Die Mutter (rechts) hat ihre Tochter (nicht im Bild) als gekidnappt gemeldet, damit der Vater des Mädchens Geld an einen Strohmann zahlt, der wiederum mit der Mutter unter einer Decke steckt. Die Mutter hat ihre Tochter für die Zeit der angeblichen Erpressung in die Obhut der Tante (links) gegeben, die ebenfalls in den Plan eingeweiht war.

Ein weiteres Problem sind die zahlreichen Raubüberfälle im Land. In diesem Fall hat eine Überwachungskamera festgehalten, wie ein Unbekannter mit Waffe einen Gashändler auf offener Strasse überfällt. Oft kommt es auch zu Fällen von Car-Hijacking - dabei werden Autofahrer vor allem an Kreuzungen gezwungen, ihr Auto abzugeben. Wer sich weigert, hat schnell ein paar Kugeln im Körper.

Jeden Tag werden überall im Land getötete Personen gefunden...

...nur selten werden die Hintergründe der Taten aufgeklärt und die Täter gefasst...

...wie in diesem Fall: Drei Männer sitzen vor Gericht, weil sie mehrere Personen umgebracht haben sollen, um an ihre Waffen zu kommen. Unter den Opfern der "Sicarios" war auch ein bekannter Liedermacher aus Guatemala.

Am selben Tag wird dieser junge Mann festgenommen, er soll mindestens vier Auftragsmorde ausgeführt haben. Seine makabre Spezialität: Die abgetrennten Köpfe der Opfer platzierte er für alle gut sichtbar an viel befahrenen Straßen.

Dieser ehemalige Abgeordnete einer politischen Partei soll Teil einer Bande gewesen sein, die andere Politiker aus dem Weg räumte. Für die Morde gab's 203 Jahre Knast.

Auch diese Damen sind gerade Thema in Guatemala: Gloria Torres (rechts) ist die Schwester der ehemaligen "First Lady" (Frau von Staatspräsident Álvaro Colom Caballeros, der bis Januar 2012 regierte) und soll mit anderen Komplizen mehrere Zehntausend Dollar per Geldwäsche beiseite geschafft haben. Auch ihre Tochter Maria Marta (links) soll bei dem schmutzigen Geschäft mitgemacht haben.

Andere versuchen mit Drogenschmuggel reich zu werden - Guatemala gilt als Transitland für Drogentransporte von Südamerika in die USA. In diesem Lastwagen fanden Polizisten zum Beispiel rund 250 Kilogramm reinstes Kokain.

Diese Herren schmuggelten zwar keine Drogen in ihrem Lkw, dafür aber sämtliche Bestandteile für eine Drogenküche. Und da sie es nicht einmal für nötig hielten, die Gerätschaften auf der Ladefläche abzudecken, flog der ganze Transport auf.

Manchmal sind es auch die eigenen Kollegen, die die Polizei aus dem Straßenverkehr ziehen muss - wie in diesem Fall: Drei Männer (zwei Polizisten, sitzend, und ein Soldat, liegend) sind sturzbetrunken mit einem Streifenwagen durch die Gegend gefahren und dann zufällig in eine Verkehrskontrolle geraten.

Die Polizei genießt in der Bevölkerung einen ziemlich schlechten Ruf, gilt als korrupt und unzuverlässig. Deshalb werden nun Kameras in alle Streifenwagen eingebaut, die die Einsatzkräfte bei ihrer Arbeit filmen und die Bilder zu einer Einsatzzentrale übertragen. So soll die Bevölkerung vor den Gesetzeshütern geschützt werden.

San Pedro La Laguna

27 Apr

Schon lange stand Guatemala auf meiner Reiseliste ganz oben. Spanisch lernen, die Menschen und die Kultur kennenlernen und das Lebensgefühl geniessen. Jetzt endlich bin ich hier. Aufregend! Direkt vom Flughafen fahren wir mit einem kleinen Bus nach Antigua, eine alte Kolonialstadt, die nur rund eine Stunde von der Hauptstadt Guatemala-Ciudad entfernt ist. Uwe ist vom Flair und dem Lebensgefühl noch nicht so überzeugt wie ich. Zuviele Geschichten von Gewalt, Mord und Kriminalität hat er gelesen. Er sitzt neben mir und beäugt skeptisch die vorbeifliegende Landschaft.

Zwei Tage später kommen wir an unserem eigentlichen Ziel, San Pedro la Laguna, an. Das Städtchen liegt auf 1500 Meter Höhe am Atitlansee am Fuß eines Vulkans. Der Blick in die umgliegenden Berge ist traumhaft. Hier gibt es viele Hostels, Bars und Restaurants, die Einheimischen sind total freundlich und wir finden schnell Anschluss zu anderen Backpackern. Viele Reisende sind hier hängen geblieben, haben eigene Geschäfte eröffnet oder geniessen einfach als Dauergäste das Hippie-Leben im Ort.

Hier wollen wir Spanisch lernen und uns akklimatisieren. Wenige Tage nach der Ankunft sind wir auch schon das erste Mal in der Spanischschule. So wie in einer Schule ist es allerdings gar nicht: Wir sitzen in einem wunderschönen Garten mit Blick auf Berge und See und bekommen täglich vier Stunden Einzelunterricht. Warum war Schule je anders? Meine Lehrerin heißt Letty und ihr ist daran gelegen, mir so viele Grammatikregeln wie nur möglich mit auf den Weg zu geben. Daneben erzählt sie mir ihre Lebensgeschichte und ihren Kummer über den davongelaufenen Ehemann. Keine Seltenheit hier, wie sich im Verlauf unserer Zeit herausstellt.

Mit Beginn des Spanischunterrichts ziehen wir in eine Gastfamilie ein, um das Gelernte gleich anwenden zu können. Die nächsten Wochen verbringen wir bei Hector und Flori. Sie wohnen mit ihren zwei Kindern in einem Haus nahe am See. Aus unserem Zimmer haben wir einen herrlichen Blick auf das Wasser und die Berge. Das entschädigt für die mittelalterlichen Sanitäranlagen, die in kleinen Verschlägen im Hof stehen und von fünf Familien genutzt werden. Die insgesamt fünf Familien, die hier leben, sind irgendwie mit unserem Gastvater verwandt. Wie genau, verstehen wir bis heute nicht, nur, dass es fünf Personen gibt, die Hector heissen.

Flori bekocht uns jeden Tag mit typischen guatemaltekischen Gerichten. Tortillas, Bohnen, Reis, Eier – mir schmeckt es richtig gut. Im Zimmer nebenan wohnt eine andere Sprachschülern aus Schottland – Scharon. Eine lebenslustige Reisende, die hier ihre Zeit überbrückt, während sie auf ein Arbeitsvisum für Kanada wartet. Die ersten Tage kommunizieren wir mit der Familie fast nur mit Händen und Füssen, da keiner von uns Spanisch spricht.

So fliegen unsere Tage vorbei. Es tut so gut eine Routine zu haben. Jeden Morgen gehen wir in die Sprachschule, nach dem Mittagessen werden die Hausaufgaben gemacht und abends geht’s zum Konversationskurs. Nach dem Abendessen gehen wir mit Sharon und anderen Sprachschülern oft noch irgendwo was trinken. Nach so vielen Monaten auf Reise bin ich richtig wissensdurstig und sauge die neue Sprache auf wie ein Schwamm. Ein Lehrerwechsel nach zwei Wochen bringt mich noch mehr nach vorne. Ich lerne fortan mit Antonio, einem 25-jährigen Guatemalteken. Der Unterricht ist lustig und ich lerne neben der Sprache viel über die kulturellen Unterschiede.

Ein besonderes Highlight ist die Woche vor Ostern, die sogenannte „Semana Santa“ – sieben Tage lang herrscht hier Ausnahmezustand. Die Kinder haben Ferien. Die Einwohnerzahl verdoppelt sich wegen der vielen Touristen. Fast täglich gibt es im Dorfzentrum katholische Prozessionen. Die beeindruckenste Prozession ist am Karfreitag. Überall in der Stadt sind Blumenteppiche ausgelegt, über die die Prozession läuft. Abends folgt in den Bars das Kontrastprogramm zur religiösen Andächtigkeit. Laute Bässe wummern, ganz San Pedro feiert, und wir feiern mit.

Auch in der Familie wird die Osterwoche gefeiert, obwohl niemand katholisch ist. Flori bekocht uns täglich mit neuen Osterspezialitäten. Süsse Bohnen, Osterbrot, heisse Schokolade oder Fisch. Es ist schön, alles so hautnah miterleben zu können. Nach fünf Wochen spreche ich schon etwas Spanisch, wir kennen halb San Pedro und fühlen uns ein bisschen wie zu Hause. Doch die Füsse fangen langsam wieder an zu jucken, bald ist es Zeit aufzubrechen. In gut einer Woche geht es weiter.

Blick auf den Atitlansee von unserem Zimmer aus. Einige der bis zu 3000 Meter hohen Berge am Wasser sind alte, nicht mehr aktive Vulkane.

Da oben, in der ersten Etage, ist unser Gästezimmer. Dank der riesigen Glasfront haben wir immer einen perfekten Rundumblick auf San Pedro.

Bobby gehört auch zur Familie - wenn wir von der Schule zurückkommen, begrüßt er uns schon an der Pforte und will gestreichelt werden.

Die Familie der Schwester unseres Gastvaters lebt direkt unter uns. Der jüngste (links) von insgesamt vier Hectors gehört zu dieser Familie. Insgesamt leben rund 30 Personen in sechs verschiedenen Wohnungen auf dem Gelände.

Gastmutter Flori zeigt Line, wie in San Pedro traditionell gekocht wird.

Abendessen mit den Gasteltern Flori und Hector (der älteste) bei Kerzenschein - immer mal wieder fällt der Strom aus. Es gibt Frijoles (eingelegte schwarze Bohnen) mit frischem Käse und warmen Tortillas.

Blick in den Innenhof.

Unser Badezimmer.

Rund zehn Minuten entfernt liegt die Sprachschule. In kleinen Gartenpavillons nahe am Wasser haben wir jeden Vormittag vier Stunden lang Einzelunterricht...

...mit unseren Lehrern Luis...

...und Antonio.

Die Menschen in San Pedro La Laguna sind sehr religiös. Höhepunkt für die Katholiken im Ort ist die Woche vor Ostern, die "Semana Santa", in der sie die Straßen mit aufwendigen Blumenteppichen dekorieren...

...die aus Tausenden von Blütenblättern gestreut werden...

...und über die stundenlang verschiedene Kreuze getragen werden...

...bis nicht mehr viel übrig ist vom Blumenschmuck.

Zu einer ganz anderen Party hat uns Angelika eingeladen. Sie war die Rezeptionistin in unserem ersten Hotel (bevor wir zur Familie zogen). Eines Tages nahm sie uns mit zu sich nach Hause, wo ihre Tochter (im goldenen Kleid) Geburtstag feierte. Dort wurden wir herzlich empfangen - mit Kuchen und traditionellen Tamales (herzhafte Maistaschen). Wir waren die Attraktion auf der Feier und hatten viel Spaß.

Wichtigster Verkehrsknotenpunkt in San Pedro ist der Fähranleger. Wer kommt oder geht nimmt in der Regel das Boot, denn die Straßen rund um den See sind meist in desaströsem Zustand und nicht immer ungefährlich...

...und dass sich am Bootsanleger alle ordentlich benehmen, dafür sorgt der Sicherheitsmann, mit dem nicht zu scherzen ist.

Direkt am Fähranlager haben wir auch diese Kuriosität entdeckt: Einen Käfer mit Bremer Nummernschild. Wie wir herausfanden, gehört der Wagen einem einheimischen Barbesitzer, der Verwandte in Norddeutschland hat, über die er das Auto gekauft hat. Wie es der Käfer dann bis hierher, in den hintersten Winkel Guatemalas geschafft hat, wusste er allerdings selbst nicht mehr so genau.